Interview Christoph Hess

Christoph Hess ist internationaler Richter für Dressur und Vielseitigkeit. Bis 2012 war er Leiter der Abteilung Ausbildung der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN). In seiner derzeitigen Funktion als Leiter des Be- reiches „Persönliche Mitglieder der Deutschen Reiter- lichen Vereinigung“ sowie als Ausbildungsbotschafter der FN prägt er wie kein anderer das Bild und die Ziele der Klassischen Reiterei im Bereich der Amateurreiter. Im Februar 2012 trafen sich Christoph Hess, Linda Parelli und Walter Zettel zu einem ersten Austausch in Florida. Daraus hat sich eine sehr intensive und anregende Zusammenarbeit ergeben.
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Was ist Ihr Eindruck von Natural Horsemanship?

Mein Eindruck ist insgesamt sehr positiv. Dinge, die Pat und Linda Parelli ihren Schülern lehren, entsprechen in vielen Teilen auch dem, was wir „unseren“ Schülern zum Thema „Die Natur des Pferdes“ mitteilen. Bei den Parellis ist der Teil sehr viel stärker gewichtet, als das bei uns – leider – derzeit noch der Fall ist.

Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Mich hat beeindruckt, mit wie viel Zeit und innerer Zuneigung sich die Parellis auf die einzelnen Pferde einstellen. Ihr gedanklicher Ansatz basiert auf dem Prinzip „mit Pferden zu spielen“. Der spielerische Umgang mit den Pferden kann auch uns helfen, um das eine oder andere Problem, das sich in der Ausbildung ergibt, zu überwinden.

Bei dieser Begegnung kann man sicherlich von einem fast schon historischen Moment sprechen!

Ob es ein historischer Moment war, weiß ich nicht. Das müssen andere beurteilen. Doch ich bin Herrn Zettl außerordentlich dankbar, dass er mir mit echter Hartnäckigkeit immer wieder versichert hat, dass ich mich mit den Parellis treffen solle, weil unsere Vorstellungen von der Ausbildung der Pferde gar nicht weit auseinanderliegen. Herr Zettl hat Recht behalten. Das was ich erlebt habe, deckt sich genau mit dem, was Herr Zettl mir so häufig via Mail bzw. in Gesprächen gesagt hatte.

Worin sehen Sie Parallelen? Wo sehen Sie Unterschiede?

Die Parallelen sehe ich dort, wo es um das Wohlergehen des Pferdes geht, dort, wo erläutert ist, wie die Natur des Pferdes reagiert, warum es sich in bestimmten Situationen so und nicht anders verhält. Im Gegensatz zu unserer Reitausbildung widmen sich die Parellis diesem Thema viel intensiver als wir es tun. Im Nachhinein betrachtet, bedaure ich, dass ich mich in meiner Funktion als Leiter der Abteilung Ausbildung, die ich über Jahrzehnte innehatte, mich diesem Thema nicht schon früher geöffnet habe.

Den Unterschied zwischen den Parellis und uns sehe ich an der Stelle, an der es um die gymnastizie- rende Ausbildung eines Pferdes geht. Die Ausbildung eines Pferdes gemäß der Skala der Ausbildung (so wie sie in den Richtlinien für Reiten und Fahren der Deutschen Reiterlichen Vereinigung festgeschrieben sind) kennen die Parellis – noch – nicht. Die dressurmäßige Arbeit im Sinne eines Gymnastizierungsprozesses ist bisher nicht das entscheidendeThema von Linda und Pat Parelli und ihren Schülern gewesen. Also: An dieser Stelle unterscheiden wir uns.

Sehen Sie die Möglichkeit, die Zusammenarbeit zu vertiefen? Wie würde das konkret aussehen?

Ich sehe die Möglichkeit, die Zusammenarbeit zu vertiefen. Dabei gehe ich davon aus, dass es zu einer echten Win-win-Situation kommt. Wir erhalten Ideen, wie wir die Arbeit am Boden mit den Pferden verbessern können und was wir daraus ableiten können für die Ausbildung vom Sattel aus.

Die Parellis lernen, wie der korrekte – einwirkungsorientierte – Sitz des Reiters auszusehen hat und wie Pferde in korrekter Weise zu gymnastizieren sind, damit sie athletischer und ihre Bewegungen ausdrucksstärker werden. Ein so geschultes Pferd wird glücklich und gesund sein; wenn der Ausbildungsprozess denn in richtiger Weise erfolgte. Weiterhin lernen sie, wie Pferde zu reiten sind, damit sie sich auch über Sprünge verschiedenster Art auf dem Reitplatz und vor allem im Gelände reiten lassen.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir in Zukunft Seminare gemeinsam durchführen (zwei Veranstaltungen sind bereits geplant) und auch weiterhin gemeinsame Lehrfilme produzieren. Eine erste Lehrfilmstaffel ist von uns gemeinsam in Texas im Oktober 2012 produziert worden.

Inwiefern sehen Sie die Grundsätze der Klassischen Reitweise im Natural Horsemanship integriert? Bezieht sich das auch auf die Ausbildungsskala?

Die Grundsätze von Natural Horsemanship sind eins zu eins in unsere klassische Reitweise integriert – allerdings nicht in der Ausführlichkeit, wie das bei den Parellis der Fall ist.

Diese Grundsätze beziehen sich auch auf die Umsetzung der Ausbildungsskala. Leider ist es uns bisher noch nicht gelungen, das all unseren Reitern zu verdeutlichen. Hier haben wir Nachholbedarf. Hier können wir von den Parellis lernen bzw. sie mit in unseren Ausbildungsprozess integrieren.

Wo sehen Sie die konkreten Ergänzungsmöglichkeiten zwischen der Ausbildung nach Klassischen Zielen und des Natural Horsemanships?

Die Prinzipien von Natural Horsemanship müssen wir unseren Reitern – unabhängig auf welchem Niveau und in welcher Disziplin sie ihre Pferde schulen – immer wieder verdeutlichen. Unsere Reiter müssen lernen, dass sie ihre Pferde nicht vermenschlichen. Sie müssen vielmehr sich selbst – so, wie es Reitmeister Martin Plewa sagt – „verpferdlichen“. Hier kann es zu einer Ergänzung unserer Ausbildungsziele (in Theorie und Praxis!) kommen.

Könnten Sie sich vorstellen, dass die Bereiche des Natural Horsemanship (Boden/Freiheitsdressur), die sich speziell mit der emotionalen Seite des Pferdes beschäftigen, Einzug indie Klassische Ausbildung finden?

Die deutsche Pferdezucht hat sich in den letzten Jahrzehnten in großartiger Weise fortentwickelt. Wir Reiter/Ausbilder sind nicht in jeder Weise „mitgekommen“. Bei den heutigen modernen Reitpferden muss auch deren emotionale Seite vermehrt mit berücksichtigt werden, um ihr volles Potential auszuschöpfen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir uns diesem Thema auch in Zukunft mehr widmen müssen. Die Pferde müssen insgesamt mehr beschäftigt werden. Die Ansätze von Linda und Pat sind dafür sicher hilfreich.

Natural Horsemanship Training beginnt individuell schon kurz nach der Geburt des Fohlens – was halten Sie davon?

Den Ansatz, sich mit dem Thema „Natural Horsemanship“ bereits kurz nach der Geburt des Fohlens zu beschäftigen, finde ich sehr gut. Je früher der Mensch einen Kontakt zum Pferd aufbaut, desto besser für Pferd und Mensch – desto harmonischer wird später der Kontakt zwischen diesen unterschiedlichen Individuen sein. Ja: Je früher Natural Horsemanship eingesetzt wird, desto einfacher ist die spätere Ausbildung des Pferdes und desto gefahrloser kann dies erfolgen. Letztendlich dient dies auch dem Wohlbefinden des Pferdes. Es wird frühzeitig an den Menschen gewöhnt, es bekommt zusätzliche Anregungen und lernt damit Neues, das ihm sonst in der Gruppe mit gleichaltrigen Pferden nicht vermittelt wird. So, wie es für das Kind gut ist, frühzeitig neben den Eltern auch andere Bezugspersonen im Kindergarten und später in der Grundschule zu bekommen, so ist es für das Pferd wichtig, dass es auch frühzeitig vielfältige Anregungen bekommt.

Die Richtlinien sind neu überarbeitet worden – gibt es „neue“ Schwerpunkte?

Dem Thema „Die Natur des Pferdes“ wird in den neuen Richtlinien ein viel stärkeres Gewicht gegeben, als dies bisher der Fall gewesen ist. Weiterhin werden die verschiedenen Prinzipien der reiterlichen Ausbildung/die verschiedenen Disziplinen stärker miteinander verzahnt. In die Skala der Ausbildung sind die so wichtigen Punkte Durchlässigkeit und Balance des Pferdes vermehrt integriert.

Dem gefühlsorientierten Reiten ist eine stärkere Bedeutung beigemessen als das in den bisherigen Richtlinien der Fall war.

Das Niveau ist nach wie vor auf das der Klasse L begrenzt. Im Gegensatz zu der bisherigen Fassung der Richtlinien ist allerdings das Schulterherein in die Grundausbildung mit integriert. Wir sind davon überzeugt, dass das Schulterherein eine wesentliche Basislektion ist, die von Pferd und Reiter beherrscht werden sollte, um Durchlässigkeit, Geraderichtung und Balance des Pferdes weiter zu verbessern. Der Reiter muss frühzeitig lernen, wie wichtig es ist, den inneren Schenkel einzusetzen. Das wird in den neuen Richtlinien deutlich hervorgehoben. Insofern sind für mich die neuen Richtlinien ein erster Schritt nach vorne.

Auf was legen Sie besonders wert in der Grundausbildung eines Pferdes?

Die für mich entscheidenden Punkte sind: die Losgelassenheit und die Balance des Pferdes. Dabei meine ich sowohl den mentalen als auch den physischen Bereich. Nur ein Pferd, das diese Kriterien erfüllt, wird sich in richtiger Weise reiten lassen.

Um diesen Zustand erreichen zu können, ist es wichtig, dass sich der Reiter zunächst selbst loslässt und sich im Sattel in den drei Grundgangarten im leichten Sitz bzw. beim Leichttraben und im Dressursitz ausbalancieren kann. Er muss in der Lage sein, sein Pferd vor sich an seinen treibenden Hilfen zu haben. Dieser Prozess muss beim jungen Pferd beginnen, das drei- oder vierjährig angeritten wird.

Nur ein Pferd, das vor seinem Reiter ist, wird sich an das Gebiss herandehnen und damit seinen Körper „öffnen“. Das „Öffnen“ des Pferdekörpers ist Voraussetzung dafür, sich im Gleichgewicht sowohl auf ebenem Hufschlag in der Reitbahn und im Gelände als auch über Sprünge kräfteschonend zu bewegen und die vom Reiter gestellten Anforderungen zu erfüllen.

Ich glaube, dass an dieser Stelle leider die hauptsächlichen Fehler gemacht werden. Nur wenigen Reitern ist bewusst, wie wichtig gerade dieser Teil der Grundausbildung eines Pferdes ist. Werden an dieser Stelle der Ausbildung Fehler gemacht, wird sich nicht genügend Zeit genommen, so rächt sich dies bis zur letzten Trainingseinheit, die Reiter und Pferd gemeinsam absolvieren. Deshalb appelliere ich an alle, sich mit diesem Teil der Ausbildung des Pferdes in besonderer Weise zu beschäftigen. Je länger sich mit diesem Teil beschäftigt wird, desto schneller lassen sich hinterher andere Ausbildungsabschnitte bewältigen.

Was darf Ihrer Meinung nach ein Pferd während der Ausbildung auf keinen Fall verlieren?

Ein Pferd darf während der Ausbildung auf keinen Fall seine Persönlichkeit verlieren. Nein, es sollte sich im Gegenteil in seiner Persönlichkeit weiterentwickeln und dabei an Ausdruckskraft gewinnen. Es sollte schöner werden und seine Bewegungen müssen ausdrucksvoller werden. Die Harmonie zwischen Reiter und Pferd wird weiter verbessert. Doch was wir leider allzu häufig sehen, ist eher das Gegenteil.

Um keinen negativen Prozess entstehen zu lassen, ist es wichtig, dass sich alle Reiter immer wieder unterrichten lassen – unabhängig vom Niveau und der Disziplin. Kein Reiter kommt ohne eine begleitende Ausbildung aus. Leider ist das längst nicht allen Reitern bewusst. Deshalb kommt es immer wieder zu Problemen, die letztendlich auf Kosten des Pferdes gehen. Bei vielen Reitern führt das dazu, dass sie unseren so herrlichen Sport nach frustrierenden Erlebnissen mit ihren Pferden aufgeben. Und das muss ja nicht sein!